Bücher 2022

Mittwoch, 28. Dezember 2022 um 16:40

Unfassbar, dass ich vor zehn Jahren noch doppelt so viele Bücher gelesen hatte.
* markiert wieder ausdrückliche Empfehlungen.

1 – Blai Bonet, Frank Henseleit (Übers.), Das Meer
Ich weiß ja nicht. 1958 auf Katalonisch veröffentlicht spielt der Roman nach dem Bürgerkrieg in einem Lungensanatorium auf Mallorca und besteht aus Monologen von einzelnen Personen (Patienten und Personal), die vage die Geschichte eines Mordes zu Beginn des Bürgerkriegs erzählen, vor allem aber die Gedanken dieser Personen über sich selbst und die anderen Monologisierer*innen.
Die spanische Version wird vermarktet als „metaphysical novel as exemplified by Dostoyevsky“ – und an Dostojewski musste ich bei den verquasten und schier endlosen theoretischen Abhandlungen über Unschuld und Schuld in den Augen des katholischen Gottes durchaus denken, über Sünde, moralisches Verderben und Versuchung – was nicht als Kompliment gemeint ist, weil IM ERNST?! Ich will mich keineswegs über Menschen lustig machen, die sich mit solchen Fragen martern, denn Marter und Pein sprechen aus diesen Monologen der Protagonisten ganz deutlich. Aber sie liegen meinem eigenen Nachdenken über Ethik sehr fern, wie fast alle Metaphysik. Mit seiner zusätzlichen Handlungsarmut und seinen angestrengt-poetischen Beschreibungen (die mögen aber ebenso wie die orthografischen und grammatikalischen Fehler der Übersetzung und mangelndem Lektorat zuzuschreiben sein) ging der Roman komplett an mir vorbei.

2 – Wolfgang Herrndorf, Sand*
Ein zweites Mal gelesen – das Ende hatte ich komplett vergessen. Auch dieses hervorragend gemacht, auch dieses zitiert indirekt eine ganze Fiktionsgeschichte an Vorbildern, um dann etwas ganz Anderes damit zu machen.

3 – Granta 157, Should we have stayed at home? New travel writing

4 – Chris Whitaker, We begin at the end
Hier ausführlich besprochen.

5 – Hanya Yanagihara, A little life*
Hier ausführlich besprochen.

6 – Jennifer Gunter, The Menopause Manifesto
Hier ausführlich besprochen.

7 – Annie Ernaux, Sonja Finck (Übers.), Das Ereignis

8 – Hildegard Knef, Der geschenkte Gaul*
Hier ausführlich besprochen.

9 – Octavia Butler, Parable of the Talents

10 – Mareike Fallwickl, Die Wut, die bleibt
Ein Roman über das vielfältige Unglück der Mutterschaft, über Männer, die es vertiefen, und über Frauen, die sich genau das wünschen. Als Alternative haben wir 3rd-wave-feministische Teenagerinnen, die Gewalt für eine Lösung halten. Die ersten Aspekte sind sehr weit weg von meinem Leben (wobei ich durchaus Mitleid empfinde, ich bedaure ja auch Menschen, die bei Formel-1-Rennen verunglücken oder sich bei Risiko-Sportarten verletzen), die letzteren fand ich arg melodramatisch geschrieben.

11 – Granta 158, In the familiy

12 – Granta 159, What Do You See?

13 – Fabio Geda, Verena von Koskull (Übers.), Ein Sonntag mit Elena*
Mir gefiel das Undramatische der einfachen Geschichte: Ein Witwer hat für die Familie seiner erwachsenen Tochter gekocht, doch diese muss kurzfristig absagen. Er ist enttäuscht und geht raus auf einen Spaziergang, lernt am Skaterpark eine Frau mit Teenagersohn kennen, lädt die beiden zum ausgefallenen Familienessen ein. Für einen Nachmittag lassen diese Fremden sich aufeinander ein.
Besonders wird diese einfache Geschichte, weil sie ist technisch liebevoll erzählt wird, nämlich mit der Stimme der zweiten erwachsenen Tochter aus einigen Jahren Abstand. Sie erzählt ihre Sicht auf ihren Vater mit, auf die ganze Familie, auf ihr eigenes Heranwachsen, ihr jetziges Leben.
Ich mochte es, für einige Stunden von Übersetzerin Verena von Koskull nach Norditalien mitgenommen zu werden.

14 – Amy Stewart, The Drunken Botanist
Gemogelt, weil ich dieses Sachbuch über pflanzliche Cocktail-Zutaten noch nicht ausgelesen habe.

15 – Colson Whitehead, The underground railroad*
Hier ausführlich besprochen.

16 – Mely Kyiak, Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an*
Hier ausführlich besprochen.

17 – Hannah Gadsby, Ten Steps to Nanette: A Memoir Situation*
Ein monumentales Werk, das mich auf vielen Ebenen mitnahm. Gadsby erzählt ihr Leben – so viel mehr, als sie für Nanette verwendete. Als strukturellen roten Faden verwendet sie die Entwicklung der LGBTQ-Rechte in der reaktionären Provinz Tasmanien, aus der sie stammt.

Mir ging ihre Geschichte nahe, ihre Einsamkeit in Kindheit und Jugend, ihr Eingeschlossensein in Selbsthass und Depression, gleichzeitig ihr Verstand, dessen Schärfe mit “Messer-” nicht annähernd gewürdigt ist: Wie sie die Dynamik in ihrem Publikum registriert, analysiert, steuert. Und doch lag sie gleichzeitg völlig daneben in ihrer Prognose, was Nanette mit dem Publikum tun würde.

Die bemerkenswerteste Figur (neben Hannah) ist ihre Mutter, vor der ich mich sehr schnell sehr fürchtete (das verbindet mich mit ihrer jüngsten Tochter).

Mum’s involvement wasn’t mean-spirited or calculated, she’s just someone who gets caught up in the moment; and when the moment takes Mum, she’ll heckle anyone and anything. I once heard her say, ‘That colour makes you look fat’ to an actual house.

Das nur als Beispielzitat, wie wenig Gadsby auch in den erschütterndsten Passagen auf Pointen verzichtet.

Ich fand sehr spannend, wie das Programm Nanette entstanden ist, das ihr zu Weltruhm verhalf. Hannah Gadsby zeichnet besonders detailliert die Genesis nach – auf der Ebene Inhalte, Programmgestaltung, aber auch, wie sie sich darauf vorbereitet, sich durch das Erzählen der Traumata nicht jedesmal zu retraumatisieren.

18 – Granta 160, Conflict

19 – Marlen Haushofer, Die Mansarde*
Diese schlichte Sprache ist so schön, in der Selbstbeschreibung der Ich-Erzählerin steckt so viel Nachvollziehbares. Ein scheinbar einfaches und durchschnittliches Frauenleben der 1930er-1960er, nur dass es sonst in der Literatur nicht vorkommt.

20 – Zoë Beck, Schwarzblende

21- Heather Corinna, What Fresh Hell Is This?: Perimenopause, Menopause, Other Indignities, and You

22 – Khuê Pham, Wo auch immer ihr seid
Eher informativ als literarisch.

23 – Alan Bennett, The Uncommon Reader

24 – Matthias Nawrat, Unternehmer

25 – Fernando Aramburu, Willi Zurbrüggen (Übers.), Patria*
Hier ausführlich besprochen.

26 – (Marc-Uwe Kling, Die Känguru-Chroniken)

27 – Elizabeth Wetmore, Valentine*
Ein gruslig nachvollziehbares Bild typischer Frauenleben in einem gottverlassenen texanischen Nest der 1970er. Am Anfang steht die brutale Vergewaltigung eines 14-jährigen Mädchens in Umständen, die heute als “date rape” bezeichnet würden. An diesem roten Faden hängen die Geschichten von Mädchen und Frauen, die einen näheren oder ferneren Bezug zu diesem Verbrechen haben; fast alle sind trost- und hoffnungslos.
Mir gefiel der Einblick in diese fremde, ferne Welt – für echtes Lob war er mir aber zu dramatisch detailreich, manch eine Stimmungserzeugung fand ich zu platt durchschaubar.

(28 – John Irving, The Last Chairlift)
Nur gut die Hälfte der über 1000 Seiten geschafft, dann beschlossen, dass es das mit mir und John Irving halt war. Die wirre (nicht im guten Sinn) Geschichte aus der Sicht von Adam, einem Schriftsteller (echt jetzt? schon wieder?) über ihn in den USA der 50er bis 80er (danach hörte ich auf) mit seiner Mutter und ihrer Partnerin, seiner Kusine und deren Partnerin, seinem Stiefvater, der zur Frau wurde, seinen skurrilen Sex mit skurrilen Frauen – interessierte mich einfach nicht, keine der Figuren war interessant genug zum Leben erweckt. Ganze Passagen bis Absätze tauchten mehrfach auf, die Beschreibungen und Handlungen ergingen sich seitenweise in irrelevanten Details, der Roman hätten dringend ein Lektorat benötigt.

29 – Kristine Bilkau, Nebenan
Das Buch gefiel mir anfangs gut, mich interessierte das norddeutsche Einfamilienhausleben, die Personen darin kamen mir nah. Dann allerdings dominierte das Thema Fortpflanzungswunsch immer mehr, entwickelte sich zum Thema unerfüllter Fortpflanzungswunsch – und damit kann ich halt wirklich, wirklich, wirklich nichts anfangen. Im letzten Viertel kriegte mich der Roman aber wieder, die Autorin merke ich mir. Unter anderem begrüßte ich sehr, dass fast alle angefangenen Erzählfäden offen blieben: verschwundene Nachbarsfamilie, Fortpflanzung, immer gebrechlichere alte Tante, anonyme Drohbriefe, Zukunft des Jugendwohnheims, mögliche Überraschungen in früher Kindheitsgeschichte.

30 – Sigrid Nunez, Salvation City*
Hier ausführlich besprochen.

31 – Helga Schubert, Vom Aufstehen: Ein Leben in Geschichten*
Das Buch ist genau was draufsteht: Die alte Helga Schubert erzählt ihr Leben in kurzen Geschichten, von der Mutter, die nie etwas mit ihr anfangen konnte, vom Künstlerinnenleben in der DDR, von ihrer prägenden christlichen Religiosität, von den Veränderungen durch die Wende. Viel Alltag, in sorgfältig ausgewählten Details und Begebenheiten, scheinbar einfach. Ich fand es hochinteressant.

32 – Alena Schröder, Junge Frau am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid*
Ein handwerklich hervorragender Roman, auch sprachlich sehr gut gemacht. Ich mochte die Struktur mit zwei Zeitebenen: Die in der Vergangenheit erzählt vom Berlin der 1920er und 30er, im Mittelpunkt die junge Senta, die früh in eine Ehe rutscht, sich um den Preis ihrer Tochter daraus befreit, sich zur Reporterin durchbeißt. Die Gegenwart erzählt eng an Hannah, eine etwas haltlose junge Frau, die gerade in ihrer Promotion steckt, eine Affäre mit ihrem Diss-Betreuer hat, jede Woche ihre greise Großmutter Evelyn besucht. Das verbindende Element zwischen diesen beiden Ebenen ist ein Brief aus einer israelischen Anwaltskanzlei an Evelyn: Sie ist die wahrscheinliche Erbin von Nazi-Raubkunst – Evelyn ist die Tochter, die Senta einst aufgab. Das Ganze ist knapp und glaubhaft erzählt, ich mochte die Figuren, interessierte mich für ihr Leben. Zwei Dinge rechne ich dem Roman besonders hoch an:
– Die einzige in der Handlung neu angebahnte Beziehung ist kein love interest, sondern die Freundschaft Hannahs zu einer Frau.
– Es gibt kein rundes Ende.

Ein gutes Lesejahr. Besonders freut mich, dass es einige richtig gute deutschsprachige Literatur von heute enthielt.

die Kaltmamsell

2 Kommentare zu „Bücher 2022“

  1. Tonia meint:

    Vielen Dank für die Liste und die Empfehlungen. Ich notiere mir Nr. 13, 16 und 31.

  2. Beate meint:

    32 Bücher …. wow. Werde mir Ihre Liste genauer ansehen!

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