Journal Mittwoch, 2. Januar 2019 – Magisches Buch, nachgeholter Neujahrslauf, endlich wieder Theater

Donnerstag, 3. Januar 2019 um 9:22

Manche Geschenke überfordern mich erst mal. Als mir Herr Kaltmamsell den handgegossenen Bräter einer fränkischen Gießerei schenkte, brauchte ich ein paar Wochen, bis ich mich damit befassen konnte. Und als mir Anke Tröder ein Exemplar des Buches schenkte, das sie über viele Jahre komplett im Alleingang geschrieben und produziert hatte, von Beauftragung der Illustration und des Lektorats über Auswahl von Schrift, Material, Druckerei über Beantragung von ISBN-Nummer bis Produktionsüberwachung – da musste erst mal der Dezember vergehen, mit seiner Unruhe, seinen Ablenkungen, seiner Düsternis und seinen Störungen, bis ich mich ihm nähern konnte.

Und ich freute mich an jedem Detail: Den gereimten Beschreibungen der 13 Präsentationsanfängerinnen und ihrer gezeichneten Darstellung, an den Ausführungen übers Präsentieren und den Tipps dazu. Ich weiß schon, warum eine meiner liebsten Präsentationen dieser TED-Talk von Model Cameron Russell ist: Aufgeregt, atemlos, unperfekt – doch sie weiß, was sie erzählen will, hat sich gut überlegt, wie sie es vermitteln kann und sie erzählt es uns.

Ich fühle mich sehr geehrt, dass ich ein Exemplar der 13 Near Misses besitzen darf: Es sind noch weniger Exemplare geworden, als Anke ohnehin berechnet hatte, und die sind alle weg.

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Gestern holte ich den Neujahrslauf nach. Ich war früh und frisch aufgewacht, kam also nach Bloggen und Zeitunglesen noch vor zehn los. Draußen war es kalt, schneite immer wieder, doch als ich von der U-Bahn-Station Odeonsplatz loslief, riss immer wieder der Himmel auf. Die Temperatur war fürs Laufen angenehm, aber vielleicht sollte ich mich dazu erziehen, auch mal kürzere Runden zu laufen: Die letzte halbe Stunde war schmerzhaft anstrengend.

Ich kam mit Semmeln heim.

Den Nachmittag hatte Herr Kaltmamsell sich freigehalten: Ich wollte endlich mal in die Residenz (habe ich in fast 20 Jahren Münchnerinnenschaft nie von innen gesehen). Durch Schneegestöber spazierten wir zum Haupteingang – und standen vor einer langen Schlange im Freien anstehender Menschen. Kurze Beratung: Wir verschoben das Vorhaben, anders als Touristen sind wir ja nicht auf bestimmte Tage angewiesen.

Statt dessen verbrachte ich den Nachmittag mit Häkeln und Lesen, las Wolf Haas’ Junger Mann aus (nett und wirklich anregend zu lesen, allerdings für mich mit unangenehmen Flashbacks in meine eigene Diätkindheit und -jugend mit ihrem unablässigen Kalorienzählen).

Abendprogramm war Theater: Ein freier Tag und die Aussicht auf ein nur 60 Minuten langes Stück brachten mich dazu, endlich mal wieder einen Abo-Termin wahrzunehmen. Ich sah Jedem das Seine in der Kammer 2 der Kammerspiele. Im Foyer traf ich unter den insgesamt eh höchstens 50 Zuschauerinnen und Zuschauern gleich mal zwei Bekannte – München ist halt dann doch übersichtlich.

Das Stück war ein Erlebnis. Regisseurin Marta Górnicka dirigierte aus der Mitte der Zuschauertribüne einen Sprechchor von 25 sehr unterschiedlichen Personen auf der Bühne, die Texte und Textstücke vortrugen, in Formation, in Choreografie – nur ganz vereinzelt auch dargestellt. Ungeheuer intensiv und dicht; tatsächlich dauerte die Inszenierung sogar deutlich weniger als 60 Minuten, mehr wäre auch nicht zu verarbeiten gewesen. Gestern gab es auch eine ungeplante Pause, als eine der Mitspielenden auf der Bühne umkippte. Gerade das und die besonnene Art, wie die Inspizientin (Regieassistenz?) mit der Situation umging, machten mir klar, warum ich eigentlich so gern ins Theater gehe: Da ist keine mediale Vermittlung zwischen mir und der Inszenierung, alles findet jetzt und direkt statt, es zählen nur meine Anwesenheit und mein Blick.
Doch nach einem Arbeitstag überwiegen so viele andere Faktoren und hindern mich am Theaterbesuch. Vielleicht muss ich mir die Theatertage frei nehmen, damit ich auch wirklich hingehe. Oder früher heimgehen? Meist ist es gegen 16 Uhr im Büro, wenn ein freier Abend so viel attraktiver wird als ein Theaterbesuch.

Heimweg über frostknirschende Gehwege.

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Es gab einen eindeutig rassistisch motivierten Anschlag in Deutschland, doch die meisten etablierten Medien nennen ihn “fremdenfeindlich”, “ausländerfeindlich”. (Nochmal: Das hieße, dass der Täter sich die Ausweise der Attackierten angesehen hätte. Hat er aber nicht: Er ging nur von ihrem Aussehen aus, stufte sie als minderwertig ein und wollte sie auslöschen.) Aus diesem Anlass: Bereits im Sommer schrieb Vanessa Vu für die Zeit über
“Die Erfindung des Rassismus”.

Seit jeher halten Menschen ihre eigene Gruppe für überlegen. Doch erst die Idee von unterschiedlichen Rassen ermöglichte es, dieses Gefühl zu begründen und durchzusetzen.

die Kaltmamsell

Journal Dienstag, 1. Januar 2019 – Migräne killt Neujahrstag

Mittwoch, 2. Januar 2019 um 7:45

Mir bedeutet der Datumswechsel wirklich nichts, und abergläubisch bin ich nur auf einer ganz animalischen Ebene (-> Aberglauben bei Tauben).

Zum Glück, denn das war kein guter erster Tag 2019 gestern. Zwar wachte ich nach gestückeltem tiefen Schlaf ohne Migräne auf, aber mit unerklärlichem Muskelkater und war sehr benommen. Benommenheit und Schwäche legten sich bis Mittag nicht: Traurig ließ ich meine Laufpläne fahren. Auf Neujahrskonzert hatte ich überhaupt keine Lust, bitte keine Sinnesreize. Doch Nichtstun hatte ich bereits in den Tagen davor reichlich geübt: Um nicht völlig in Selbstverachtung zu rutschen, musste ich irgendwas erledigen. Es wurde dann eine Stunde Bügeln, die für das Abtragen von Bügelwäsche der vergangenen Wochen reichte. Und die Fertigstellung eines Häkelwerks.

Ansonsten guckte ich raus in den regnerischen Tag, frühstückte nach Duschen und Körperpflege spät Granatapfel und Orangen mit Joghurt, las Internet bei Stollen und Plätzchen, servierte zum Abendessen aufgetaute Meatballs überbacken mit Käse.

Das Abendprogramm lief im Fernsehen: My fair lady. Während ich die englische Originalversion fast bis in den letzten Buchstaben mitsingen kann, war mir die Übersetzung neu – und ich fand sie zu meiner Überraschung ausgesprochen gelungen; das mag daran gelegen haben, dass wohl die deutsche Bühnenversion verwendet wurde, die keine Rücksicht auf Lippensynchronizität nimmt. Ganz bis zum Schluss hielt ich allerdings nicht durch, der durch Werbepausen erst auf halb zwölf fiel.

die Kaltmamsell

Journal Montag, 31. Dezember 2018 – Rosa-hellblau-Falle bei erwachsenen Laufschuhen

Dienstag, 1. Januar 2019 um 10:33

Herr Kaltmamsell hatte seine Ferien für beendet erklärt und am Vorabend den Wecker gestellt, um früh zu arbeiten. Obwohl er mir das gestanden hatte, hatte ich ihn Sonntagabend nicht aus meinem Bett in seines geworfen, sondern schlief gestern nach seinem Weckerklingeln noch ein halbes Stündchen.

Doch auch ich wollte gestern Erledigungen erledigen: neue Laufschuhe kaufen. Ich dachte daran, einen Sport-BH fürs Ausprobieren anzuziehen und ging zum Sport Schuster.

Zu meiner Verwunderung ist jetzt nach dem Umbau die Laufabteilung getrennt in Damen- und Herrenlaufen auf verschiedenen Stockwerken. Da ich in den vergangenen Laufschuh-Beratungen dort letztendlich immer bei einem Herrenmodell gelandet war, fragte ich in der Herrenabteilung nach dem Nachfolgemodell meiner mitgebrachten alten Laufschuhe. Doch der Verkäufer schickte mich zu den Damen. Als ich protestierte und auf meine Laufschuhhistorie verwies, auch anmerkte, dass ich selbst bei Straßenschuhen oft das Herrenmodell bevorzuge – begleitete er mich selbst ins andere Stockwerk. Alle Nachfragen halfen nichts, niemand konnte mir erklären, warum es keine Schnittmenge zwischen Männerfüßen und Frauenfüßen geben soll, alle beharrten darauf, dass Frauen immer mit einem Damenmodell besser zurecht kommen und Männer immer mit einem Herrenmodell. Letztendlich beschloss ich, dass das der falsche Ort für Grundsatzdiskussionen des Gendermarketings war, zumal im Verkauf gestern ausschließlich Sport-Bro’s arbeiteten. Das Paar Schuhe, das mir empfohlen wurde, passte dann auch sehr gut und fühlte sich beim Ausprobieren (mehrfaches Rennen durch die gesamte Abteilung) wunderbar an. Dass es hässlich wie die Nacht ist (und zwar wie eine Nacht in einer 80er-Disko mit zu vielen pappsüßen Schirmchencocktails) werde ich mit unpassenden Schnürsenkeln konterkarieren.

Ich hatte wirklich dringend neue Laufschuhe gebraucht, das alte Paar hatte ich im Dezember 2015 gekauft. Auch wenn ich lang nicht so oft Laufen war wie davor, müsste ich damit wieder auf die über 1.000 Kilometer gekommen sein, die ich mit dem Vorgängerpaar gezählt in zwei Jahren erreicht hatte. Diesmal habe ich keine Daten, weil es die App Moves nicht mehr gibt und die Apple Health-App nicht zwischen gerannten und gegangenen Schritten unterscheidet. (Die Suche nach einer tauglichen Nachfolge für Moves habe ich eingestellt; so wichtig ist mir das Thema dann doch nicht.)

Zum Frühstück gab’s Salat- und Rohkostreste, nachmittags las ich Zeitung und Internet, knabberte Plätzchen, häkelte und stellte die letzten Lieblingstweets des Jahres zusammen.

Unsere ursprüngliche Silvestereinladung (Leserunde) hatte sich wegen böser Krankheit der Gastgeber zerschlagen, aber freundlicherweise war eine uralte Internetbekanntschaft spontan eingesprungen. So verbrachten Herr Kaltmamsell und ich den Abend zu viert in DaglfingDenning über Köstlichkeiten und schönen Weinen. Obwohl wir alle keine Feierer sind, hielten wir mit wenig Mühe bis Mitternacht durch und stießen mit Blick auf viel Rauch und etwas weniger Funken am Himmel auf dem Balkon aufs neue Jahr an.

Beim Warten auf die S-Bahn nach Hause schickte mir allerdings die Migräne einen Vorschlaghammer gegen die Stirn. Der nächste Gruß ans neue Jahr bestand daheim im Bett in einer Dosis Triptan, während in einer Wohnung über uns eine klassische Silvesterparty tobte. Nehme ich sie doch einfach als letzten Abschied des alten Jahrs.

Vielen Dank für all Ihre lieben Grüße und Wünsche! Mögen Sie alle nur mit schönen Gefühlen auf den Kalender 2019 schauen!

die Kaltmamsell

Twitterlieblinge Dezember 2018

Montag, 31. Dezember 2018 um 18:23

Nachtrag: Mehr Lieblingstweetlisten hat wieder Anne Schüßler gesammelt.

die Kaltmamsell

Jahresrückblick 2018

Montag, 31. Dezember 2018 um 12:20

Die am häufigsten geherzten Fotos auf instagram:

Zugenommen oder abgenommen?
Wahrscheinlich wieder ein wenig zugenommen. Seit der Größe 38 vor zwölf Jahren werde ich ganz langsam, aber kontinuierlich mehr.

Haare länger oder kürzer?
Länger, weil jetzt Cary Grant.

Kurzsichtiger oder weitsichtiger?
Weniger kurzsichtig, ich brauche immer dringender neue Brillengläser.

Mehr bewegt oder weniger?
Weniger – so oft, wie ich in letzter Minute dann doch keine Lust auf geplanten Sport hatte…

Mehr Kohle oder weniger.
Wegen erfolgreicher Tarifverhandlungen ein wenig mehr.

Mehr ausgegeben oder weniger?
Etwa gleich viel.

Der hirnrissigste Plan?
“Ach, dann mach’ ich doch den Abstecher zum Rothaarsteig” am ersten Tag der Westerwaldwanderung – allerdings war der nicht mal richtig hirnrissig, sondern einfach fehleingeschätzt.

Die gefährlichste Unternehmung?
Mein Leben in der sichersten Stadt Deutschlands und meine verschwundene Abenteuerlust verhindern wirklich gefährlichen Unternehmungen.

Die teuerste Anschaffung?
Die höchsten Einzelausgaben gingen in Urlaube, Dinge habe ich mir keine teuren angeschafft.

Das leckerste Essen?
Wie immer von der Situation abhängig. Am meisten genossen habe ich das eine oder andere Freitagabendfleisch aus der Pfanne, das Herr Kaltmamsell servierte, so manchen meiner Ernteanteilsalate, und die Currys des Herrn Kaltmamsell hauen mich ebenfalls regelmäßig um.

Das beeindruckenste Buch?
M.R. Carey, The girl with all the gifts – unter anderem weil ich nicht erwartet hatte, dass ein Zombieroman so gut gemacht sein könnte.

Das enttäuschendste Buch?
Michael Chabon, Summerland – selbst Meister Chabon kann mir Baseball als Romanthema nicht verkaufen.

Der ergreifendste Film?
Ich war gegen meine Vorsätze sehr wenig im Kino, sieben magere Mal. Am nahesten ging mir Call me by your name.

Die beste Musik?
Der Soundtrack von Call me by your name – aber beim Beantworten der Musikfrage fühle ich mich immer wie eine Betrügerin, weil die genannte Musik wahrscheinlich die einzige ist, die ich überhaupt neu gehört habe.

Das beste Theater?
Schon wieder diente mein Abo bei den Kammerspielen lediglich der Kulturförderung.

Die meiste Zeit verbracht mit…?
Büro.

Die schönste Zeit verbracht mit…?
Draußen.

Vorherrschendes Gefühl 2018?
Erträglich.

2018 zum ersten Mal getan?
Einen Preis für mein Blog entgegengenommen, Irland bereist, ein großes Fest beschlossen, ein Gefängnis von innen gesehen.

2018 nach langer Zeit wieder getan?
Einem Sportverein beigetreten, an einer Demo teilgenommen, an einer Familienhochzeit teilgenommen, Postkarten geschrieben, gehäkelt.

3 Dinge, auf die ich gut hätte verzichten mögen?
Schmerzen, den fortschreitenden poltischen Rechtsruck Europas, Schmerzen.

Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
Geht wählen!

Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?
Klappe halten.

Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?
Freundliche Zugewandtheit.

2018 war mit 1 Wort…?
Mal was Neues.

Vorsätze für 2019?
Let’s face the music and dance.

https://youtu.be/rVoIirmCWPs

die Kaltmamsell

Journal Sonntag, 30. Dezember 2018 – Spaziergang nach Sendling

Montag, 31. Dezember 2018 um 8:40

Lang und mit Genuss geschlafen, zu Regengeräuschen aufgewacht. Es blieb ein dunkler, nasser Tag.

Gestern genehmigte ich mir wieder eine Runde Sport: 35 Minuten Crosstrainer, 35 Minuten tiefes Bauchtraining. Die Gymnastik war ordentlich anstrengend, ich konnte richtig schwitzen.

Frühstück, Lesen, Häkeln. Ein wenig raus wollte ich trotz des düsteren Himmels. Als ich gegen halb vier die Wohnung verließ, machte der Regen gerade Pause. Sonst spaziere ich immer entweder Richtung Marienplatz oder Richtung Isar, diesmal hatte ich mir als Ziel den Harras ausgesucht, ging also die Lindwurmstraße stadtauswärts rauf nach Sendling.

Wieder entdeckte ich, dass selbst in meiner nächsten Umgebung ein paar Schritte abseits meiner gewohnten Wege genügen, um mich völlig Neues entdecken zu lassen: Sendling hat diese leicht schäbige Vorstadtausstrahlung, die ich bislang nie live in München erlebt hatte (um sagen zu können, warum sie sich ganz deutlich von der Atmosphäre in Giesing unterscheidet, müsste ich erst nochmal in mich gehen).

Zurück in der Ludwigsvorstadt.

Sehr vertraut fühlte sich allerdings die seltsame Stimmung der Jahreszeit an. Dieses innere Schweben zwischen Weihnachten und Silvester kenne ich seit Jungmädchenzeiten, in denen ich mich an diesen Tagen mit Freundinnen und Freunden traf, daheim mit Strickzeug auf dem Schoß, in den letzten ein, zwei Jahren vor dem Abitur auch schon in Cafés oder Teeläden. Und auch wenn ich gerne ein bisschen Sonne und längere Tage gesehen hätte und verreist wäre, mag ich es dieses Jahr, ins echte Nichtstun zu fallen – und unter anderem auf die Idee mit dem Häkeln zu kommen. Andere Leute, habe ich mir sagen lassen, fangen in diesen Tagen an Puzzles zu legen.

Daheim schrieb ich den Post über meine Bücher 2018 fertig und las im Faksimile von Henri Cartier-Bressons The decisive moment (Weihnachtsgeschenk), bis Herr Kaltmamsell Apfelstrudel nach Rezept seiner Mutter servierte.

die Kaltmamsell

Bücher 2018

Sonntag, 30. Dezember 2018 um 17:24

Ich werde mich wohl damit abfinden müssen, dass ich immer weniger Bücher lese. Sehr wahrscheinlich ist diese Lesezeit von Internetlesen übernommen worden: Ich lese mehr Artikel, auch lange Artikel in Online-Medien, meist auf Twitterverweise hin. Außerdem schaffe ich es nicht mehr, meine Tageszeitung ungelesen zu lassen: Während des Studiums stapelte sich die Süddeutsche auch mal ein paar Tage ungelesen, wenn ich gerade in einem fesselnden Buch steckte – das habe ich verlernt.

* markiert meine Empfehlungen
() In Klammern gesetzt habe ich aktives Abraten.
Unmarkiert sind Bücher, die mir genug zum freiwilligen Auslesen gefielen.

1 – Leo Perutz, Der Meister des Jüngsten Tages

2 – Stephen Fry, Mythos

3 – Zoë Beck, Die Lieferantin*
Ein richtig gut gemachter Krimi („Thriller“ wie auf dem Buchtitel hätte ich den Roman nicht genannt), Handlung und Sprache sauber gearbeitet. Die Geschichte (kein who done it, wir wissen immer, wer was gemacht hat – vielleicht deshalb die Einordnung als Thriller?) handelt in einer nahen Zukunft in London, es geht um Drogengeschäfte und -politik, um Nationalismus, organisierte Kriminalität und wunderbar viel Technik. Angenehmerweise stören keine Liebesgeschichten. Die Charaktere sind genau genug gezeichnet, dass ich sie glaubte und mich hineindenken konnte.

4 – Deborah Feldman, Unorthodox
Sehr gemischte Gefühle dem Buch gegenüber. Ich habe durch diese Autobiografie zwar viel über die Ideologie und Ursprünge der Hassidim gelernt, auch über die konkreten und oft haarsträubenden Details der konkreten beschriebenen Spielart. Und ich erkannte das Muster, das sie mit allen radikalreligiösen Sekten und Esoteriken verbindet: Je absurder der Glauben, je weiter weg von Ratio und sonstigem gesellschaftlichem Konsens, desto inniger und richtiger fühlt er sich für die Mitglieder der Gemeinschaft an.
Doch, und jetzt kommt das große Aber: Ich fühlte mich beim Lesen unwohl. Feldman schreibt ja nicht nur intime Details über sich selbst, sondern entblößt bis ins Intimste andere Menschen von Verwandten bis Ehepartner – echte Menschen, die sich nicht wehren konnten. Das ist in meinen Augen unanständig und gemein. Ihre eigene Befreiung ist durchaus interessant und sei ihr unbenommen; schließlich zeigt sich Deborah Feldman überzeugt, dass sie von Kindesbeinen an nicht wirklich dazu passte. Doch dass sie die Privatspähre so vieler anderer Menschen für ihre Geschichte ausschlachtet, kann ich nicht gut heißen.

5 – Sue Townsend, The Secret Diary of Adrian Mole aged 13 3/4

6 – Elena Ferrante, Ann Goldstein (transl.), My brilliant friend

7 – Granta 142, Animalia

8 – Christiane Frohmann, Präraffaelitische Girls erklären das Internet

9 – Barbara Yelin, Irmina*
Die graphic novel um Irmina spielt im Europa der 30er und zeigt die politische und gesellschaftskritische Bewusstwerdung einer jungen, aufgeweckten Frau aus Deutschland während eines langen Aufenthalts in England – und wie dieselbe Frau nach ihrer Rückkehr einknickt und sich einreiht in die Mitläufer des Dritten Reichs. Bedrückend und nachvollziehbar.

10 – M.R. Carey, The girl with all the gifts*
Hier besprochen.

11 – Didier Eribon, Tobias Haberkorn (Übers.), Rückkehr nach Reims*
Hier besprochen.

12 – Stanisław Lem, Caesar Rymarowicz (Übers.), Sterntagebücher

13 – Lena Gorelik, Meine weißen Nächte

14 – John Irving, The Cider House Rules*
Der Roman hat sich sehr gut gehalten, beim wiederholten Wiederlesen war ich wieder gefesselt von der Geschichte und den Personen, lachte und weinte mit ihnen, bewunderte die implizite pro choice-Argumentation und die handwerklich meisterhafte Erzähltechnik. (Als ich vor vielen Jahren während eines Englandurlaubs vor einem Buchladen auf einen Stapel Gray’s Anatomy-Faksimiles stieß, kaufte ich selbstverständlich sofort ein Exemplar.)

15 – Michael Chabon, The Yiddish Policemen’s Union*
Ebenfalls wiedergelesen, dieses für unsere Leserunde, und ich musste mein Urteil von 2010 nicht revidieren.

16 – Granta 143, After the fact*
Eine besonders gelungene Ausgabe des einen Literaturmagazins, das ich im Abo bekomme: Geschichten und Reportagen über eben Vergangenes, darunter über sozialen Wohnungsbau in England und über Palmyra – allein diese beiden Texte und Bilder lohnten die ganze Ausgabe.

17 – Oskar Maria Graf, Das Leben meiner Mutter*
Ein unglaubliches Zeitzeugnis hat Graf mit diesem autobiografischen Roman hingelegt – und es passte perfekt in dieses Jahr, in dem hundert Jahre Räterepublik gefeiert wurden. Diese politische Zeitgeschichte bildet aber nur das letzte Drittel des dicken Buchs, davor geht es um eine ländliche Kindheit in den letzten Jahrzehnten der bayerischen Monarchie, um Herrschaftsverhältnisse, katholischen Alltag, um Wissbegier ohne Chance.

(18 – Pierre Michon, Anne Weber (Übers.), Leben der kleinen Toten)
Über dieses weit gerühmte Buch ärgerte ich mich sehr: Da interessierte sich jemand keineswegs für das Leben kleiner Leute, sondern nur für sich selbst, seine romantische Herkunft, seine tsetsetse wilde und verkommene Drogenjugend – und brauchte ein paar Leute als interessante Staffage dafür, notfalls halb erfunden. Die Sprache vor lauter konstruierter Vergleiche und unter Schmerzenslauten an den Haaren herbeigezogenen Bildern nahezu undurchdringlich – kein Torbogen, kein Baum ist vor Michons Metapherorhoe sicher. (Beispielsatz: „Welches alte Familiendrama lebt weiter in der Kehle der Hähne?“) Wenn das die Krone französischsprachiger Erzählkunst ist, kann sie mir gestohlen bleiben.

19 – The Stinging Fly, Issue 38/Volume Two, Summer 2018

20 – Robert Galbraith, The Cuckoo’s Calling*
Ich hatte Lust gehabt auf leicht verdauliches, aber gut gemachtes Lesefutter und mich an die Empfehlung dieser Krimiserie von J.K. Rowling unter Pseudonym erinnert: Volltreffer. Eine wunderbare Mischung aus bekannten private eye-Topoi und Abweichung davon. Die Stadt London spielt eine große Rolle, der ermittelnde Cormoran Strike ist ein Kriegsveteran mit ausreichend gebrochener Persönlichkeit, um spannend zu bleiben, und dann haben wir seine Assistentin Robin, die von Anfang an deutlich interessanter ist als die Stehlampen-Ersatzfiguren, die ich an dieser Stelle von Film und Roman gewohnt bin.

21 – Chimamanda Ngozi Adichie, Americanah*
Eine intellektuelle Nigerianerin in USA, die sich dort zum ersten Mal wie eine Schwarze fühlt, steht im Mittelpunkt dieses Romans. Ich lernte viel über Nigeria samt seiner jüngeren Geschichte und ließ mir von der Erzählerin meine eigenen Vorurteile und Unkenntnisse unter die Nase reiben. Gleichzeitig fand ich die Geschichte ganz hervorragend erzählt: Nicht chronologisch und doch zeitlich voranschreitend, immer wieder dazwischengeschoben provokante Blogposts der Erzählerin zu Rassismus.

22 – Heinrich Böll, Irisches Tagebuch

23 – Neil Gaiman, American Gods*
Allein schon die Prämisse mochte ich: All die Einwanderer in die USA haben mit ihrer Folklore auch die mythischen Figuren ihrer Herkunftskulturen mitgebracht – und die haben sich in den Staaten ebenso verändert wie alle anderen Einwanderer. Es machte gar nichts, dass ich nicht alle handelnden Figuren einem Mythos zuordnen konnte: Die Geschichte überraschte mich immer wieder und hielt mich bei der Stange.

24 – Granta 144, Generic love story

25 – Richard Matheson, I am Legend

26 – Michael Chabon, Summerland
Das letzte Fünftel ließ ich ungelesen: Der Kinder-/Jugendroman war wirklich nicht schlecht gemacht, aber die thematische Mischung aus Baseball und dem kleinen Hobbit ging komplett an mir vorbei.

27 – Michael Ondaatje, Warlight*
Hier besprochen.

28 – Alan Bradley, The Sweetness at the Bottom of the Pie

29 – Robert Galbraith, The Silkworm

30 – J.G. Farrell, Troubles*
Der Roman spielt im Irland kurz nach dem Ersten Weltkrieg, vordergründig geht es um ein riesiges, altes und von Engländern geführtes Hotel in der Nähe von Dublin, das Majestic, das langsam aber energisch verfällt. Im Mittelpunkt steht vordergründig der britische Major Brendan Archer, nach dem Krieg und Aufenthalt im Sanatorium frisch aus dem Militär entlassen. Hintergrund aber sind die vielen kleinen und mittelgroßen gewalttätigen Auseinandersetzungen der britischen Kolonialmacht mit den einheimischen Iren, die sich erst aus historischer Entfernung als Unabhängigkeitskrieg herausstellen.
Ich war sehr angetan von der dichten und detailreichen Handlung, in der sich das steigende Chaos im und am Hotel mit dem Verfall des britischen Empire verwebt, von den grotesken Einzelheiten, mit denen sich die Hotelbewohner abfinden und von der Erzählstimme, die indirekt die überhebliche Haltung der Briten und nur wenig Hellsicht spiegelt – unter anderem haben zwar alle britischen Bewohnerinnen und Besucher des Hotels Namen, aber aus dem zahlreichen einheimischen Personal des Komplexes nur zwei Personen.
Der Roman (der erste aus Farells „Empire Trilogy“) ist ein großartiges Stück Commonwealth Literature aus unerwarteter Richtung,

31 – Elizabeth Strout, My name is Lucy Barton*
Ein kleines, seltsames Buch, das mir nahe ging. In Episoden wird das Leben der Titelfigur Lucy Barton beschrieben. Ausgangspunkt ist ein langer Krankenhausaufenthalt, auf den die Ich-Erzählerin immer wieder zurück kommt. Doch die Episoden reichen zum einen bis in ihre bitterarme früheste Kindheit zurück, zum anderen in eine weite Zukunft. Es bleibt bis zum Schluss unklar, wo gerade „Jetzt“ ist, die Erzählstimme scheint sich beim Erzählen ebenso zu suchen wie wir sie beim Lesen.

32 – Granta 145, Ghosts

33 – Birte Alber, Carsten Cording, Eichhörnchen entdecken!*
Genau dieses Buch hatte mir bislang gefehlt, um mir viele Fragen zu beantworten, die während der vergangenen Jahre meines Lebens Haus an Baum mit zahlreichen Eichhörnchen entstanden waren. Und es enthält ganz viele niedliche Eichhörnchenfotos!

34 – A.L. Kennedy, Serious Sweet
Für meinen Geschmack wollte der Roman zu viel. Ein Symptom: Er muss mit drei Schrifttypen arbeiten, um die Leserin mit der extrem verflochtenen Struktur nicht komplett zu überfordern.

35 – Meta Bene, Es gibt mehr Sterne als Idioten.*
Ich kannte die Cartoons von Meta Bene von seinem Twitter-Account, dieses schöne Buch gibt ihnen die angemessene Wertigkeit.

die Kaltmamsell